Lebensmittelverteilung

 
Am 21.März 2020 stand das gesamte Leben in Indien mit einem Schlag still. Die Zentralregierung hatte den kompletten Lockdown verhängt, der die Bevölkerung wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel traf. Am schlimmsten wurden die Ärmsten getroffen, denn sie leben von der Hand in den Mund. All die vielen Familien unserer Schulkinder standen vor dem Nichts, denn niemand durfte außerhalb des Hauses einer Arbeit nachgehen. Da auch die Bahn und Busse auf ein Minimum eingeschränkt wurden, konnten Tausende von Menschen, die noch schnell in ihre Heimatdörfer zurückkehren wollten, um wenigstens den Familienklan um sich zu haben, nicht ans Ziel kommen. Deshalb machten sich Millionen von Menschen auf den Weg, zu Fuß nach Hause zu gehen, und sei es Hunderte von Kilometern weit. Erschütternde Bilder gingen um die Welt, Menschen gingen barfuß mit blutenden Füßen, andere trugen ihre alten Eltern oder kleinen Kinder auf den Schultern, und das alles unter der sengenden Sonne des April, einem der heißesten Monate in Indien.

Wir alle waren zutiefst berührt und sahen uns unfähig, in dieser unüberschaubaren Notsituation unterstützend einzuwirken und einen Plan zu entwickeln, wo überhaupt man mit einer Hilfe anfangen könnte. Herr Anand rief kurzerhand die führenden Personen der verschiedenen Projekte zu einer Besprechung zusammen, und gemeinsam wurde entschieden, dass jetzt die Hauptaufgabe darin bestand, die Menschen vor dem Hunger zu bewahren. Sie beschlossen, die Hauptnahrungsmittel Reis, Mehl, Öl und Linsen zu besorgen, um damit die Familien unserer Schulkinder, Kindergartenkinder, der AZUBIS des Ausbildungszentrums und sonstige arme Menschen wie Witwen, Körperbehinderte und Menschen, die aufs Betteln angewiesen waren, zu versorgen. Eine riesige Logistik war notwendig, denn die Ware musste in großer Menge, aber schon als Einzelpackung für jede Familie geliefert werden.

Es musste ausgerechnet werden, wieviel eine Durchschnittsfamilie von 4 – 5 Personen brauchte, um sich 3 – 4 Wochen ernähren zu können und dies dann entsprechend zugeteilt werden. Nicht nur die Logistik erschien als eine Mammutaufgabe, auch ein Kostenplan musste erstellt werden.

Um solche Mengen von Lebensmitteln zu finanzieren, hatten der indische, deutsche und Schweizer Shishu Mandir Verein daher um Unterstützung aufgerufen und ein überwältigendes Echo erlebt. Mit dieser Resonanz konnten wir also beherzt loslegen. Unsere Fahrer und Kleinbusse waren pausenlos im Einsatz, um die Sachen abzuholen. Gleichzeitig wurde auch ein Plan erstellt, wie die Verteilung am effektivsten vonstattengehen sollte. Natürlich musste von der Polizei die Erlaubnis eingeholt werden, solch eine Großaktion durchzuführen. Unsere Sozialarbeiter durchkämmten alle umliegenden Dörfer, um die Bedürftigsten auszusuchen, die einen Berechtigungsschein mit einer bestimmten Uhrzeit zur Abholung der ihnen zugeteilten Nahrungsmittel ausgehändigt bekamen. Ein Mitarbeiter steckte den anderen mit seinem Eifer an, und so waren praktisch alle unsere Angestellten und Jugendlichen ab 16 Jahren und auch unsere früheren Kinder beschäftigt, Bänke, Stühle und Tische aufzustellen und für jede Station einen Verantwortlichen zu benennen.
Dann kam der Tag X. Die Menschen strömten nur so herbei, natürlich alle mit Maske und in gebührendem Abstand unter polizeilicher Überwachung. Frauen konnten die Sachen nicht alleine tragen und hatten eine Begleitperson mitgebracht. Es berührte uns zutiefst, wenn Menschen mit zusammengelegten Händen und mit Tränen des Dankes in den Augen vor uns standen und manche nach indischem Brauch unsere Füße berührten.
Solch einen Ausdruck tiefster Dankbarkeit vergisst man nicht.
Zwar wurde die Ausgangssperre zwischenzeitlich gelockert, doch die Arbeitsmöglichkeiten waren weggefallen. So haben wir die Lebensmittelverteilung bis über ein Jahr hinaus beibehalten und inzwischen 15 000 Essenspakete mit Reis, Mehl, Öl und Linsen verteilt.
An dieser Stelle auch noch einmal ein herzliches Dankeschön an alle, die diese Aktion durch ihre großzügigen Spenden möglich gemacht haben und weiterhin ermöglichen, denn die derzeit anhaltende Lage in Indien erfordert auch in den kommenden Wochen unsere lebenswichtige Unterstützung.