Das Mädchen Geetha

 

Im Herbst 1986 erreichte uns die Nachricht von einer befreundeten Sozialarbeiterin, dass sie ein kleines Mädchen bei sich hätte, ein Findelkind, das in keinem Heim ihrer Umgebung akzeptiert würde. Für uns war es selbstverständlich, dass wir das Kind aufnähmen. Das Kind kam, schwer krank, mit geschwollenen Gliedern und Gelenken, bei uns an. Obendrein erkrankte es kurz darauf an Masern und war einige Wochen todkrank. Dieses kleine Mädchen, das wir auf vier Jahre schätzten, ertrug all seine Schmerzen mit einer herzergreifenden Stille, die für ein so kleines Wesen ungewöhnlich war.

Als Findelkind musste sie der Polizei und anderen staatlichen Stellen gemeldet werden, denn der Staat ist der Schutzherr aller Findelkinder. Dementsprechend hätte sie in ein staatliches Heim übergeben werden müssen, was wir unter allen Umständen verhindern wollten, nachdem wir ihr kleines Seelchen entdeckt hatten. Nach einem Jahr unsinniger Gerichtsverhandlungen verpflichtete man uns, den “Fall” in verschiedenen Medien zu veröffentlichen. Unter vielen Suchenden kam auch eine junge Frau in Begleitung eines ortsansässigen Pfarrers, die behauptete, ihr Kind namens Geetha sei bei uns und sie wolle ihr Kind wieder haben. Während dieses Gespräches spielte unsere Geetha die ganze Zeit um uns herum und nahm von der Frau keinerlei Notiz. Auch als die Frau unsere Geetha auf den Schoß nehmen wollte, machte sie sich steif und musste wieder losgelassen werden, so dass sie auf der Bank neben der Frau saß. Doch plötzlich legte sie ihren Kopf in den Schoß der Frau und sagte “Mami”.

Die Mutter, die ca. 300 km entfernt wohnte, war auf unsere Zeitungsanzeige aufmerksam gemacht worden. Sie hatte ihr Kind vor Jahren in einem Waisenhaus abgegeben, weil sie sich und ihr Kind als alleinstehende Frau nicht unterhalten konnte, und Geetha war von dem Waisenhaus weggelaufen. Zur Sicherheit ließen wir Mutter und Kind auch von den Angehörigen dieses Heimes identifizieren. Doch an der Verwandtschaft bestand kein Zweifel, denn Geetha war der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Nun blieb nur noch die Aufgabe, das Gericht zu überzeugen. Wir zogen mit einem großen Aufgebot von Zeugen los, doch die Verhandlung gestaltete sich sehr einfach und kurz. Das Kind wurde gefragt, wer die Frau (mit Blick auf die Mutter) sei, und Geetha antwortete “Mami”, dann, wer die Frau (mit Blick auf Frau Mundhra, die Heimleiterin) sei, und Geetha antwortete “Mama”. Dann kam der Richter mit einer unerwarteten Frage: “Und bei wem willst du bleiben?” Uns allen stockte das Herz, doch Geetha antwortete prompt: “Mama”. Dies war eine Sensation im Gerichtssaal, wo sich häufig herzzerreißende Szenen zwischen Kindern und Eltern abspielten, wenn die Kinder in einem Heim bleiben mussten. Noch nie hatte sich ein Kind für ein Heim entschieden, doch unsere Geetha tat es! Nichtsdestoweniger wurde das Kind der Mutter zugesprochen, der ja das Sorgerecht nicht entzogen worden war. Doch die Mutter konnte ihr Kind nicht selbst versorgen und ließ es gerne bei uns. So hatten wir unsere Geetha glücklich wieder!

Geetha entwickelte sich gut, blieb immer etwas verschlossen und fiel bei etwaigen Krankheiten durch ihre stille Art zu leiden auf. Mit 14 Jahren bekam sie plötzlich Schwellungen im Gesicht. Sie hatte eine Nierenentzündung. Trotz sofortiger Maßnahmen durch einen Nephrologen bildete sich die Entzündung nicht zurück, sondern ging in ein chronisches Stadium über. Geetha musste eine strenge Diät einhalten, die ihr sehr schwer fiel, doch es half alles nichts: Nach zwei Jahren war die Nierenschrumpfung so weit fortgeschritten, dass sie dialysepflichtig wurde, zunächst zweimal pro Woche, dann dreimal. Dies war ein wahres Martyrium für das junge Mädchen, das durch die Krankheit nicht einmal regelmäßig am Schulunterricht teilnehmen konnte. Die einzige Hoffnung bestand in einer Nierentransplantation. Die Mutter kam wegen ihrer abweichenden Blutgruppe nicht in Betracht, so blieb nur das Warten auf eine Fremdniere…

Am 9.12.1999 kam plötzlich ein Anruf vom Krankenhaus, dass man eine Niere bekommen habe. Geethas Blut- und Gewebeteste stimmten mit der gefundenen Niere überein, und so sollte Geetha der glückliche Empfänger sein. Ihr Glück war unbeschreiblich: Endlich befreit zu sein aus der Abhängigkeit von einer Maschine, endlich essen zu dürfen, was sie mochte – es war eine wahre Wiedergeburt. Doch ihr Glück währte ganze neun Tage. Der Körper nahm die Niere nicht an, Geetha erhielt immer größere Dosen von Immunsuppressiva, um die Abwehrreaktion des Körpers zu unterdrücken, doch wieder einmal half alles nichts: Die neue Niere versagte allmählich ganz ihren Dienst, und Geetha musste erneut an die Dialyse.

So bitter und niederschmetternd all diese Erfahrungen waren, blieb Geetha doch meistens froh und unverzagt. Sie hoffte wohl immer noch auf ein Wunder, eventuell eine zweite Nierentransplantation? Wir unterstützten sie darin nach Kräften, denn ein Leben in Abhängigkeit von einer Maschine wollten wir unserer Geetha gerne ersparen. Deshalb meldeten wir sie erneut zu einer Nierentransplantation an. Inzwischen war Geetha aber – vermutlich – durch die Dialysegeräte mit Hepatitis C infiziert worden, weswegen keinerlei immunsuppressive Medikamente, die bei einer Transplantation unabdingbar sind, gegeben werden dürften. Folglich schied eine weitere Nierentransplantation aus.

Geetha konnte von da an nicht mehr wie jeder andere junge Mensch auf eine eigene Familie hoffen, sondern musste ihr Lebensglück in anderen Bereichen suchen. Mittels eiserner Energie schaffte sie den Schulabschluss der 10. Klasse, obwohl sie schon damals regelmäßig zur Dialyse gehen musste. Anschließend absolvierte sie einen Computerkurs in Buchführung, um die Grundkenntnisse einer Sekretärin/ Buchhalterin zu erwerben. Schreibmaschine schreiben hatte sie neben der Schule bereits gelernt. Aufgrund ihrer regelmäßigen Auszeiten an der Dialyse konnte sie nicht auf eine Anstellung in einer Firma oder Organisation hoffen. Es stand aber für uns seit langem fest, dass Geetha selbstverständlich an unserer Schule arbeiten sollte, so lange sie es schaffen würde. Sie war unendlich froh über diese große Chance, auf die sie kaum zu hoffen gewagt hatte. Besonders glücklich war der Umstand, dass sie in unserem Schulleiter, Herrn Anand, einen väterlichen Freund und Unterstützer fand. Herr Anand scheut keine Mühe und Anstrengung, um Geetha zu unterstützen oder ihr etwas zu erklären. Sie ist also in den “besten Händen”. Doch dieses kleine Glück sei ihr angesichts ihres grausamen Schicksals von ganzem Herzen gegönnt!

Im Herbst 2016 erklärte uns Geethas Enterogastrologe, bei dem sie in regelmäßiger Kontrolle wegen ihres Leberleidens war, dass ein Medikament entwickelt worden sei, das die Leberentzündung weitgehend eindämmen könnte. Selbst wenn es nicht ausreichen sollte, ihre Hepatitis vollkommen zu heilen, würde eine sichere Besserung ihres Krankheitsbildes erreicht werden können. Für uns stand es damit fest: Dieses Medikament musste Geetha haben! Glücklicherweise erhielten wir von der pharmazeutischen Firma einen Sonderpreis, und ein Spendenaufruf brachte die Zusage einiger Freunde, immer zu weiterer Unterstützung bereit zu sein. Geetha erhielt das Medikament, das sie glücklicherweise sehr gut vertrug, und ist inzwischen von ihrer Hepatitis weitgehend befreit. Dementsprechend steht sie wieder auf der Warteliste zur Nierentransplantation – und wartet.

Geetha ist unendlich dankbar für alle empfangene Liebe, doch bei jedem Jahreswechsel erleben wir Tränen in ihren Augen, die zu sagen scheinen: Wie viele Jahre werden mir auf dieser Erde noch geschenkt?

Hella Mundhra

April 2021